INPP-neuromotorische Entwicklungsförderung ®
Christian Peters

Ursachen

Kindliche Entwicklungsverzögerungen und Entwicklungsstörungen können häufig auf Probleme zurückgeführt werden, die bereits in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder innerhalb des ersten Lebensjahres entstanden sind.

Schon im Mutterleib steuern Reflexe erste automatische Bewegungen, die das Wachstum und die Hirnreifung fördern. Jedes Kind wird mit solchen frühkindlichen Reflexen geboren. Mit dem Fortschreiten der Gehirnreifung und der damit verbunden Entwicklung der Willkürmotorik müssen die frühkindlichen Reflexe jedoch gehemmt und in Halte- und Stellreaktionen umgewandelt werden.

Störende Einflüsse können diesen Entwicklungsprozess beeinträchtigen und bewirken, dass Reste dieser Reflexe in einem nicht klinischen, aber dennoch irritierenden Umfang "aktiv" bleiben. Die Folgen derartiger neurophysiologischer Entwicklungsstörungen sind dann beispielsweise ausgelassene oder nicht vollständig durchlaufene Bewegungsphasen im ersten Lebensjahr, die als Meilensteine der sensomotorischen Integration gelten. So kommt es zu Einschränkungen in Bewegung, Wahrnehmung, Lernen und Verhalten. Auch Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung können in diesem Zusammenhang stehen. Häufig zeigen diese Kinder Symtome von Träumerei oder Hyperaktivität (ADS/ADHS), Ängsten oder anderen Verhaltensauffälligkeiten. Misserfolge in der Schule komplettieren den "Teufelskreis".


Bedeutung der frühkindlichen Reflexe

Ein Reflex ist eine unwillkürliche Bewegung als Reaktion auf einen bestimmten Sinnesreiz. Bekannte Beispiele sind der Kniescheibensehnenreflex, der Schluckreflex oder der Augenlidreflex. Diese Reflexe bleiben das ganze Leben aktiv. Es gibt aber auch eine Reihe von zeitlich begrenzt aktiven Reflexen. Dazu gehören die so genannten frühkindlichen oder primitiven Reflexe.

Um das Überleben eines Menschen während der Schwangerschaft, während der Geburt und in den ersten Monaten nach der Geburt sicherzustellen, wird er mit einer Anzahl dieser frühkindlichen Reflexe ausgestattet. Sie werden durch verschiedene Reize, wie Berührung, Lageveränderung, Geräusche oder plötzlichen Lichteinfall, auf der Ebene des Hirnstammes ausgelöst und führen zu unwillkürlich ablaufenden Bewegungsmustern. So führt beispielsweise bei Neugeborenen die Stimulierung der Lippenregion zur Auslösung des Saugreflexes oder die Stimulierung der Handinnenfläche zur Auslösung des Greifreflexes. Die verschiedenen Reflexe dienen u.a. der motorischen und sensorischen Ausreifung des Kleinkindes und bilden das Fundament für die späteren, bewusst gesteuerten Fertigkeiten. Wenn Sie in der Menuauswahl "Videobeispiele" anklicken, so können Sie sich eine kleine Auswahl der frühkindlichen Reflexe während ihrer natürlichen Waltzeit anschauen.

Nur auf der Basis einer ordentlichen Ausreifung der frühkindlichen Reflexe entwickeln sich auch die Grobmotorik und die Feinmotorik ungestört. Kommt es auf einer der Stufen zu Irritationen oder gar Störungen, so übertragen sich diese auf die folgenden Entwicklungsstufen.

Die bei der Geburt bestehenden Reflexe werden im Zuge der weiteren Ausreifung des Kindes nicht nur überflüssig, sondern ihr Fortbestehen würde seine Weiterentwicklung sogar behindern.

Bleiben etwa Reste des Greifreflexes bestehen, so fällt es dem Kind schwer, richtig loszulassen und gezielt greifen zu lernen. Wenn eine Bewegung des Kopfes eine Reaktion des ganzen Körpers auslöst, so wird dies gezielte, isolierte Bewegungen unabhängig von der Kopfhaltung erschweren. Die frühkindlichen Reflexe werden deshalb normalerweise von höheren Hirnregionen gehemmt oder in dauerhaft hilfreiche Halte- und Stellreaktionen integriert.

Es gibt eine festgelegte Abfolge dieser Reflexe. Ein frühkindlicher Reflex reift heran, er erreicht seinen Höhepunkt und wird dann gehemmt oder in einen höheren Reflex integriert. Diese Entwicklung verläuft bei allen gesunden Kindern gleich und ist ein Zeichen für ein reifendes zentrales Nervensystem.

Abweichungen von diesem Verlauf, also das nicht rechtzeitige und vollständige Integrieren der frühkindlichen Reflexe innerhalb der ersten zwölf Lebensmonate, weisen auf eine Entwicklungsverzögerung im zentralen Nervensystem hin. Je nach Stärke der bleibenden Reflexaktivität können mehrere Funktionsgebiete, welche zur Grundausstattung für Lernen und Verhalten zählen, betroffen sein, z.B. die grob- und feinmotorische Koordination, die sensorische Wahrnehmung, die Konzentration und das Ausdrucksvermögen.

Wenn Restreaktionen der frühkindlichen Reflexe fortbestehen, so können diese in aller Regel vom übrigen sich weiter entwickelnden Nervensystem kompensiert werden. So kann der von einem der Reflexe ausgelöste Impuls, bei einer Drehung oder einem Heben des Kopfes ebenfalls die Arme und Beine zu bewegen, von anderen Teilen des Gehirns mehr oder weniger gut unterdrückt werden. Trotzdem irritiert der Reflex das System, bindet Aufmerksamkeit und kostet auf diese Weise Zeit und Kraft, die dem Kind dann häufig beim Lernen fehlen.


Symptome

Um die Auswirkungen solcher Restreaktionen frühkindlicher Reflexe verständlich zu machen, seien hier beispielhaft einige Reflexe vorgestellt, deren Fortwirken sich besonders gravierend auf die Motorik, das Verhalten und die schulischen Leistungen von Kindern auswirken können.


Tonischer Labyrinth Reflex (TLR)

Eine Beugung des Kopfes nach vorne (TLR vorwärts) löst eine Beugung des Körpers aus. Die Streckung des Kopfes in den Nacken (TLR rückwärts) fördert die wichtige Entwicklung aus der Beugung in die Streckung und leitet so die Aufrichtung gegen die Schwerkraft ein. Der TLR ermöglicht dem Baby erste Sinneswahrnehmungen für Gleichgewicht und Raum.

Mögliche Auswirkungen von Restreaktionen des TLR:

  • Restreaktionen des TLR behindern das Krabbeln. Die Krabbelphase ist im Leben des Kindes ein wichtiger Entwicklungsschritt, um Koordination, Gleichgewicht und Augenmuskelfunktionen miteinander zu verbinden.
  • Alle folgenden Halte- und Stellreaktionen entwickeln sich nicht vollständig. Die Folge der mangelnden Kopfkontrolle ist eine Beeinträchtigung der Augenmuskelfunktionen (vestibulo-okularer Reflexbogen). Das Gleichgewicht wird durch fehlerhafte visuelle Informationen negativ beeinflusst. Kinder mit gestörtem Gleichgewicht zeigen deutlich schlechtere Leistungen in der Schule. Das vom hessischen Kultusministerium unterstützte wissenschaftliche "Projekt Schnecke" belegt dies eindrucksvoll. (Siehe in der Menuauswahl unter "Interessante Links") 
  • Schwierigkeiten in der Seh-, Hör- und/ oder Raumwahrnehmung mit negativen Folgen für die Lautunterscheidung, für die Unterscheidung von d und b, 23 und 32, links und rechts, für das Erlernen der Zeigeruhr oder für die Orientierung in der Zeit.
  • Die irritierenden Rückmeldungen über die eigene Lage im Raum haben häufig auch tollpatschige Bewegungsmuster zur Folge. Die Kinder lassen dann z.B. Teller fallen oder stoßen Gläser um.

Mögliche Restreaktionen besonders beim TLR vorwärts

  • schlechte Haltung - z.B. krummer Rücken
  • Hypotonie (geringe Muskelspannung)
  • Abneigung gegen sportliche Aktivitäten
  • ungenügend ausgebildetes Zeitgefühl, schlechte räumliche Orientierung

und beim TLR rückwärts

  • schlechte Haltung - z.B. Steifheit oder gar Neigung, auf Zehenspitzen zu gehen; oft fällt ein Purzelbaum schwer
  • schlechte Balance und Koordination der Bewegung
  • steife, ruckartige Bewegungen, die Streckmuskeln haben stärkeren Einfluss
  • gering ausgebildete Organisationsfähigkeit


Moro Reflex

Er wird auch als frühkindlicher Schreckreflex bezeichnet, da er eine unwillkürliche Reaktion auf eine Bedrohung darstellt.

In der ersten Phase spreizt das Kind Arme und Beine vom Körper ab, öffnet die Hände, legt den Kopf in den Nacken, öffnet den Mund und atmet ein. Dies ist die Phase, die den ersten Atemzug bei der Geburt unterstützt. In der zweiten Phase findet nach einem kurzen Erstarren eine Umkehr der Bewegungen statt. Der Kopf geht zur Brust, Hände, Arme und Beine schließen sich wieder. Das Kind atmet aus und es erfolgt eventuell ein Schrei.

Bei der Auslösung des Moro Reflexes wird Adrenalin und Cortisol produziert und freigesetzt. Beide Stoffe sind u.a. für die Immunabwehr mitverantwortlich. Bilden sich duch häufiges Auslösen des Moro Reflexes immer wieder vermehrt Stresshormone, kann die Immunabwehr nicht mehr richtig arbeiten und die Folge können häufige Infekte und Haut- oder Atemwegsprobleme sein.

Mögliche Auswirkungen von Restreaktionen des ATNR:

Die Kinder neigen in Schrecksituationen zum Abspreizen der Arme. Wenn sie fallen, kommt ihre Abstützreaktion deshalb gelegentlich zu spät und sie fallen dann häufiger als andere aufs Knie oder schlagen mit dem Kinn auf. 

  • Sie zeigen oft Überreaktionen und haben eine übersteigerte Wahrnehmung, eine Folge der erhöhten Adrenalin- und Cortisolproduktion. Die Kinder nehmen zuviel auf und können keine irrelevanten Informationen ausfiltern. Durch diese Reizüberflutung sind sie leicht ablenkbar.

  • Restreaktionen des Moro Reflexes haben Auswirkungen auf das gesamte emotionale Profil des Kindes.
  • Die Kinder sind oft einerseits sehr reif, das heißt, sie wissen viel, andererseits aber sehr unreif in ihrem Sozialverhalten.
  • Die Kinder können sich häufig nicht angepasst im Alltag verhalten. Sie brauchen einen regelmäßigen Ablauf, nichts Neues oder Unbekanntes. Dadurch erhalten sie für sich das erforderliche Maß an Sicherheit. Die Kinder entwickeln Strategien, um sich zu schützen. Dazu zählen emotionale Überreaktionen wie z.B. Weinen, heftige Wutausbrüche, starke Kritikempfindlichkeit oder Rückzug bei scheinbar nichtigen Anlässen.
  • Bei Erwachsenen können sich überängstliche oder depressive Verhaltensweisen und wenig selbstbewusstes, selbstkritisches Handeln zeigen. Auch Angstneurosen und Panikattacken können Restreaktonen eines Moro Reflexes sein.  


Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (ATNR)

Der Reflex wird über die Kopfdrehung zur Seite ausgelöst. Dabei strecken sich Arm und Bein der Gesichtsseite und die Gliedmaßen auf der Hinterhauptsseite beugen sich. Durch die Verbindung von Kopf-, Augen- und Armbewegung bildet der ATNR die Grundlage für ein erstes Training der Zusammenarbeit von Auge und Hand und damit eine fundamentale Voraussetzung für alles spätere Lernen in der Schule.

Mögliche Auswirkungen von Restreaktionen des ATNR:

  • Die Kopfbewegung ist nicht unabhängig von der Körperbewegung möglich, wodurch die Kinder den Eltern häufig vor die Füße laufen oder beim Fahrradfahren ungewollte Lenkbewegungen machen.
  • Die Fähigkeit, die Körpermittellinie zu überkreuzen, ist erschwert.
  • Schwierigkeiten mit der Augenmuskelmotorik und der visuellen Wahrnehmung.
  • Homolaterale Bewegungsmuster anstelle normaler Kreuzmusterbewegungen, wechselnde Lateralität (Seitigkeit).
  • In der Schule zeigt sich die mangelnde Hand-Augen-Kopf-Koordination u.a. durch folgende Auffälligkeiten:
  • Unlinierte Zeilen können nicht eingehalten werden.
  • Schreiben und gleichzeitige Kopfbewegung (Blick zum Buch) lassen den Stift wegrutschen.
  • Unreife und verkrampfte Stifthaltung, erhöhter Druck auf den Stift.
  • Lese- und Rechtschreibprobleme.
  • Erlernen der Schreibschrift ist erschwert.


Symmetrischer Tonischer Nackenreflex (STNR)

Beim STNR führt die Beugung des Kopfes zur Brust zu einer symmetrischen Beugung der Arme und zur Streckung der Beine. Die Streckung des Kopfes in den Nacken verursacht eine Streckung der Arme und eine Beugung der Beine.

Eine der Aufgaben des STNR ist es, den TLR (siehe oben) aufzubrechen und dem Kind zu ermöglichen, die Schwerkraft zu überwinden, in den Vierfüßlerstand oder den Katzensitz zu kommen und beide Körperhälften unabhängig voneinander zu benutzen.

Mögliche Auswirkungen von Restreaktionen des STNR:

  • Schwierigkeiten, die Hände und Füße still zu halten und auf dem Stuhl ruhig zu sitzen.
  • Beim Schreiben am Tisch (aber auch beim Lesen oder Essen) sinkt der Kopf immer tiefer, als könne das Kind seinen Kopf nicht halten oder als sei es kurzsichtig.
  • Die Beine werden häufig entweder lümmelnd ausgestreckt oder das Kind fesselt seine Beine, indem es die Füße um die Stuhlbeine schlingt oder sich auf die eigenen Füße setzt.
  • Manche Kinder arbeiten gerne stehend, ein Bein angewinkelt auf dem Stuhl abgelegt oder möchten auf dem Bauch liegend lernen.
  • Das Erlernen des Schwimmens ist häufig erschwert. Die Koordination zwischen Armen und Beinen gelingt nicht gut, da der Kopf zum Atmen in den Nacken überstreckt wird.
  • In der Schule zeigt sich die mangelnde Hand-Augen-Kopf-Koordination u.a. durch folgende Auffälligkeiten:
  • Probleme mit dem Abschreiben von der Tafel.
  • Schwierigkeiten, nach einem Aufblicken die richtige Zeile im Lesebuch wieder zu finden.